Sonntag, 27. März 2011

Uhrzeitenwende


Wieder einmal werden die Uhren umgestellt. Die Winterzeit endet, die Sommerzeit beginnt. Vielen Menschen bekommt diese Umstellung nicht, die Umstellung verursacht stets ein leichtes Chaos, und auch unser Vikar kam heute zu spät. Wer sich gegen solche Unfälle wappnen will, sollte sich wohl eine funkgesteuerte Uhr anschaffen.

Skaphe mit temporalen Stunden
Einem Menschen der Antike und des Mittelalters, der Renaissance, ja selbst einem Menschen des 19. Jahrhunderts hätte man dieses Phänomen der Zeitumstellung wohl nicht erklären können. Jeder Ort hatte, bis zur Einführung der "Eisenbahnzeit" Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts, seine eigene Zeit. Die Uhrzeit orientierte sich am Sonnenlauf und wurde stets zur Mitte des Tages, wenn die Sonne im Zenit stand "synchronisiert", auch als im 14. Jahrhundert mechanische Uhren aufkamen, baute man noch immer Sonnenuhren, um die noch recht ungenauen mechanischen Uhren nachzustellen. Wobei auch die meist planen Sonnenuhren des Mittelalters nicht an die Genauigkeit der sphärischen griechisch-römischen Skaphen herankamen.

Noch bis zum Beginn der Zeit der großen astronomischen Uhren Mitte des 14. Jahrhunderts, und auch noch viele Jahrhunderte danach wurde der Tag nicht in 24 gleiche Stunden eingeteilt, sondern, wie in der Antike üblich, in sogenannte "temporale" Stunden, was bedeutet, daß Tag und Nacht, unabhängig von der jahreszeitbedingten Länge in jeweils 12 Stunden eingeteilt wurden, beginnend mit der ersten Stunde nach Sonnenaufgang (der Prim). Dies sind die Uhrzeiten, von denen in der Bibel die Rede ist, wenn in Matth. 20 von der dritten (der Terz), der sechsten (der Sext) und der neunten (der Non) die Rede ist. Wenn im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg die Arbeiter um die elfte Stunde eingestellt werden, so blieb ihnen noch eine Stunde Arbeit bis zum Sonnenuntergang, und um so skandalöser schien es den Zeitgenossen Jesu, daß auch diese noch den vollen Lohn erhielten. Und wenn wir am Karfreitag der Kreuzigung Jesu in der sechsten Stunden gedenken, und seines Todes in der neunten Stunden, dann war dies nur zum Zeitpunkt der Frühlings- und Herbstzeitenwende präzise zwölf Uhr Ortszeit und 15 Uhr Ortszeit, und keineswegs zwölf und fünfzehn Uhr MEZ.

Wadokei-Uhr der Edo-Epoche
Auf dem Land ging man  noch lange Zeit mit den "Hühnern zu Bett" und stieg mit ihnen auf, Licht war teuer, es galt, das Tageslicht möglichst auszunutzen. In Ländern, in denen Energie rar, und die Resourcen begrenzt waren, blieb es - wie im Japan der Edo-Epoche - noch bis ins 19. Jahrhundert bei der Einteilung in temporale Stunden.

Als im 14. Jahrhundert mechanische Uhren aufkamen, stellte man mit einem ingeniösen Mechanismus sowohl die mit mechanischen Uhren einfacher darzustellenden "äquinoktialen" Stunden, wie auch die temporalen Stunden dar. Aber darauf beschränkten sich die Wunderwerke der astronomischen Uhren, die sich um die Jahrhundertwende von 14. zum 15. Jahrhundert in fast jeder größeren Kirche installiert wurden, keineswegs. Sie zeigten meist noch ein ganzes Spekturm astronomischer Ereignisse und Daten, wie die Sternzeit, die Mondphasen, die Position von Mond, Sonne und Planeten im Zodiac, die Stundenregenten der (temporalen) Planetenstunden, Sonnenauf- und -untergang, Mondauf- und -untergang, die Zeiten der Dämmerung und der "goldenen Stunden". Es waren eher astronomische Rechenmaschinen als Stundenuhren, wie wir sie heute kennen. Es ist die Existenz von nahezu tausend dieser Großuhren in Europa nachgewiesen, wenige nur sind erhalten.

Prager Rathausuhr
Die Funktionsweise dieser astronomischen Uhren ist äußerst kompliziert, und sie zu lesen ist eine eigene Kunst. Man hat nun in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele dieser Uhren rekonstruiert, und auf meist liebevoll gestalteten Seiten kann man ihre Funktionen nachvollziehen.

Für den "Einstieg" ist die deutsche Wikipedia-Seite der Prager Rathausuhr empfehlenswert, da sie vor allem die Lesetechnik einer nach Art eines Astrolabiums gestaltete Uhr anschaulich darstellt. Diese "Astrolabiumsuhren" sind am weitesten verbreitet, und man kennt häufig auch ihre Konstrukteure. Nikolaus Lilienveld gilt etwa als Konstrukteur der astronomischen Uhren in Lund, Stralsund und Bad Doberan. Lilienvelds Uhren sind angesichts ihrer großen Ähnlichkeit schon fast Beispiel einer Serienproduktion, aber es bot sich ja gewissermaßen der Nachbau eines erfolgreichen Projektes an.

Ausschnitt der Münsteraner Uhr
Auch in Deutschland finden sich mehrere Beispiele dieser großen astronomischen Uhren, die bekanntesten (und schönsten) sind dabei wohl die Ulmer Rathausuhr, und die astronomische Uhr des St. Paulus-Domes in Münster/Westfalen. Mir persönlich gefällt die Münsteraner Uhr nicht nur aus ästhetischen Gründen am besten. Sie weist eine außergewöhnliche Vielzahl von Funktionen aus, neben der Darstellung des Standes von Sonne und Mond zeigt sie auch die Konstellation der damals bekannten Planeten und die Stellung der Fixsternhimmels. Anrührend ist auch ihr Glockenspiel und das kleine Schaustück, daß sich jeden Mittag abspielt. Bei diesem Schauspiel treten die heiligen drei Könige, von denen man im Mittelalter sehr wohl wußte, daß sie auch "magi", Sterndeuter nämlich waren, aus der Tür, um sich vor der Jungfrau und dem Kind zu verneigen. Die Astronomie, und in Mittelalter und früher Neuzeit damit auch die Astrologie, dient, sie herrscht nicht.

Astra regunt homines, sed regit astra Deus.
Cedunt astra Deo, precibus Deus ipse piorum.

Die Sterne beherrschen die Menschen, doch Gott herrscht über die Sterne. Die Sterne gehorchen Gott, doch Gott hört auf die Gebete der Frommen, liest man als Text auf dieser Uhr.

Ulmer Rathausuhr.
Die im internet sehr ausführlich dokumentierte Ulmer Rathausuhr, darf hier natürlich nicht fehlen, auch ihren Typus gibt es nicht nur einmal, unter anderem, weil der in Deutschland führende Hersteller von Großuhren diese Uhr rekonstruiert hat, und sie wartet. 

Eine nicht zum Typus der Astrolabiumsuhr gehörende Uhr findet sich in Rostock. Sie dürfte, was das Alter ihres Uhrwerks angeht, wohl die älteste noch original erhaltene astronomische Uhr in Deutschland sein. Von der Darstellung der astronomischen Daten fällt sie in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen, aber die Tatsache, daß die Uhr nahezu völlig erhalten ist, macht sie einzigartig. (Nicht vergessen, das Deutschlandfähnchen rechts oben zu klicken)

Die meisten der noch existierenden Uhren in Deutschland - ich habe da Lund einfach mal dazugezählt, ist doch die dortige Uhr von einem deutschen Uhrmacher und Ingenieur konstruiert worden, sind keine Originale mehr. Die Uhr in Lund wurde sogar erst im Jahre 1923 rekonstruiert, die Münsteraner Uhr wurde während der Zeit der Terrorherrschaft der Wiedertäufer völlig zerstört und erst im 16. Jahrhundert wieder neu erbaut, andere Uhre besitzen zumeist nicht mehr die originalen Uhrwerke.
Sicher fielen, wie etwa die Uhr des Münster von Doberan, die Uhren auch schlichten Plünderern zum Opfer, doch daß diese Uhren außer Mode kamen, hat auch seine tiefer gehenden Gründe. Nicht nur, daß mit der Verbreitung von Wand- und Taschenuhren die Großuhren ihre Funktion verloren. Die Verfasser eines Führers für den Dom zu Lund sehen die Gründe so:

Die Uhr im Dom von Lund mit der thronenden Gottesmutter
Während des 17. Jahrhunderts (nach der Reformation) stellte man ein neues Zifferblatt für die Uhr her, nachdem der raffinierte mittelalterliche Uhrenmechanismus nicht mehr funktionierte. Viele der Original-Funktionen, die die alte Uhr zeigte, fielen dabei weg, das Zifferblatt zeigte nur noch die Tageszeit. Glocken auf der Oberseite der Uhr läuteten jede Viertelstunde und jede volle Stunde, unter der Obhut von zwei Figuren, die das Leben und den Tod repräsentierten. In dieser Beseitigung der alten Uhr die den Blick auf religiöse Feste, die Zeiten des Gebets und den Kosmos richtete, liegt etwas Symbolisches. Die neue Uhr drehte sich stattdessen im wörtlichen Sinn um die Stunden des Erdenlebens zwischen den Grenzen von Geburt und Tod.

Die innerweltliche Askese, die die lutherische Staatskirche Dänemarks gewissermaßen zur Staatsdoktrin erhob, führte die Menschen dazu, daß sie den Blick vom Himmel ab und den Werktischen zuwandten. Von diesem Moment bis zur Einführung der Eisenbahnzeit sollte es noch drei Jahrhunderte dauern. Die Uhrzeit aber stand nicht mehr im Dienst des Gebetes, im Dienste Gottes und der Menschen, sondern gab den industriellen Marschkolonnen den Takt. Wer morgen unter einem time lag leidet, sollte vielleicht einen Moment darüber nachdenken. 

Astrolabium der Firma Festo
Nun sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten astronomische Uhren wieder rekonstruiert worden, sogar Neukonstruktionen sind hinzugekommen. So hat die Firma Festo, Marktführer in Sachen Automation, vor wenigen Jahren sogar eine völlig neu entwickelte, äußerst komplexe und hochpräzise astronomische Uhr Bauen lassen. Daß einer der bedeutendsten Technologieführer der Welt dies unternimmt, läßt sich vielleicht ja im Hegelschen Sinn als Umschlag der Quantität in die Qualität verstehen. Und daß diese Uhr in jahrelanger Feierabendarbeit von einem ehemaligen Vorstandsmitglied entwickelt wurde, läßt gewissermaßen den Typus des Universalgelehrten und Ingenieurs der Renaissance auferstehen. Vielleicht helfen diese neuen Uhren ja, den Blick wieder gen Himmel zu richten. 

Nikolaus Lilienveld
Von dem Konstrukteur und Erbauer der astronomischen Uhren des Münster in Bad Doberan. Stralsund und Lund haben wir sogar ein Selbstbildnis. Die Uhr in Bad Dobern selbst wurde im dreißigjährigen Krieg zunächst geplündert, später zerstört, das Zifferblatt blieb erhalten. Es läßt ein wenig darüber nachdenken, ob der Islam vielleicht doch ein bißchen zu Deutschland gehört. Wie bei Lilienvelds Uhren üblich, stehen in den vier Ecken des Zifferblatts Darstellungen der vier Weltweisen, des in Ägypten geborenen Griechen Ptolemäus, des spanischen Königs Alfons von Kastilien des ägyptischen Astrologen und Arztes Ali bin Ridwan und des in Persien lebenden und Lehrenden Mathematikers, Astronomen und Astrologen Albumasar.

1 Kommentar:

Gaspares hat gesagt…

Nach der Lektüre muß ich nun über die heimatlichen Görlitzer Scultetus- und Rathausuhr wohl nachforschen. Vielen Dank!